Hey Leute, wie gestern versprochen: heute beginnt ein neuer Text, und zwar der Ausstellungskatalog des Museums Essentieller Artefakte. Den hab ich damals im November 2016 geschrieben, kurz nach der Trump-Wahl, als alles dunkel schien und wir diese seltsamste aller Timelines noch nicht gewohnt waren. Es war damals auch eine meiner schlimmsten depressiven Episoden, und dieser Text – die ein, zwei Seiten am Tag – waren das einzige, was ich in dieser Zeit an kreative zusammengebracht habe. Irgendwie passend, ihn jetzt während einer anderen seltsamen Zeit wieder hervorzuholen, auf dass er amüsieren möge.
Das hier war damals der Begleittext:
„Das Museum Essentieller Artefakte wurde im Jahre 1856 von der angesehenen Wiener Salondame Penelopina von Krausitzky gegründed und wird bis heute von ihren Erben verwaltet. Der Zutritt ist allerdings streng limitiert, der Prozess involviert unter anderem zwei Fragebögen, mehrere persönliche Interviews und mehrstündiges Waten durch die Wiener Kanalisation, um den Eingang zu finden. Die Alligatoren im letzten Streckenabschnitt scheinen mir jedes mal ein winziges bisschen übertrieben – bei gleich zwei Gelegenheiten hat einer davon mein Notizbuch gefressen – aber dafür kann man sich danach im Museumscafé bei Tee und Kuchen erholen und gegebenenfalls gegen einen winzigen Aufpreis seine Bisswunden verarzten lassen. Ich kann besonders die Zimtschnecken empfehlen.“
Und jetzt zum Katalog…
Ausstellungsstück Nr. 876:
Arbeitswerkzeug eines Schnurrbartzwirblers
Jeder kennt sie, die schwarz-weiß-Fotos aus dem frühen 19. Jahrhundert von Männern mit glorios gezwirbelten Schnurrbärten. Schnurrbärte mit anmutigem Schwung und verspieltem Aufwärtsstreben, Schnurrbärte von solcher Schönheit, dass sich Generationen von Männern seitdem fragen: ‚Wie haben sie das gemacht? Was war das Geheimnis? Wie, oh wie, kann ich selbst diese überragende Zwirbelung herstellen, um die Wollust im Busen jeder Frau auszulösen, die meiner Gesichtsbehaarung ansichtig wird? Wie nur?“
Nun, das Geheimnis liegt in der Existenz eines heutzutage leider ausgestorbenen Berufstandes, nämlich dem der professionellen Schnurrbartzwirbler. Diese Männer und Frauen waren Fachleute höchsten Kalibers und mussten eine zehnjährige Ausbildung in geheimen Schnurrbartzwirblerschulen durchlaufen. Gerüchten zufolge verbarge sich eine davon im Ural und eine andere in einer walisischen Hochebene, die man nur über einen schmalen Bergpfad erreichen konnte. Allein schon die Aufnahmsprüfung für diese Schulen waren so drakonisch, dass fast jedes Jahr zumindest ein Prüfling dabei zu Tode kam – und dennoch gab es immer genug Wagemutige, die ihr Glück versuchten. Denn gab es eine höhere Ehre als die des professionellen Schburrbartista? Wohl kaum.
Am letzten Tag ihrer Ausbildung schließlich, nach unsäglichen Mühen, wurde ihnen dann in einer okkulten Zeremonie ihr Frisierwerkzeug überreicht, jede Bürste und jedes Pomadendöschen mit dem Emblem ihrer jeweiligen Schule versehen. Danach zogen sie als freie Künstler durch die Lande, um jeder Gesichtsbehaarung ihre Dienste anzutragen, die ihnen würdig erschien. Sie nahmen für ihre Arbeit jedoch niemals Geld, sondern lebten von Almosen und dem wohligen Wissen, dass ihnen ihr Platz in der Geschichte sicher war.
Würdest Du mir die Dame und ihr Museum eventuell leihen? Du weißt, wofür. :-*
Hat dies auf schreckenbergschreibt rebloggt und kommentierte:
Wenn es einen einzigen Grund gibt, froh zu sein, dass die Ausgangsbeschränkungen in Deutschland noch eine Weile aufrecht erhalten werden (also… abgesehen davon, dass wir dadurch ein Wiederaufflammen der Infektionszahlen und die damit verbundenen unschönen Begleiterscheinungen – siehe Italien, Spanien, Belgien, Großbritannien, USA, Brasilien, Schweden… – vermeiden oder strecken), dann der, dass Sarah eine neue Erzählungsreihe für uns beginnt. Und das, obwohl bei ihr in Österreich der Lockdown gerade beendet wird. Ich danke sehr für diese Solidarität, durch die wir Einblick erhalten, in den wundersamen Katalog des Museums Essentieller Artefakte:
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