Das Lexikon der Absonderlichen Arten – Die Toilettensphinx

Toilettensphinx, die: 

Der Legende nach stürzte sich die Sphinx zu Tode, aus Zorn darüber, dass der Held Ödipus ihr Rätsel gelöst hatte. Das ist natürlich eine grobe Unwahrheit. Ein Wesen wie die Sphinx stirbt nicht, und schon gar nicht freiwillig – sie verschwindet höchstens und taucht unter in der Zivilbevölkerung. So kommt es, dass sie heute incognito in Wien sesshaft ist, als Putzfrau in einer öffentlichen Toilette irgendwo im zweiten Bezirk.

Bevor der werte Leser nun Mitleid mit ihr hat ob dieser niedrigen Profession, so möge er sich zweierlei vor Augen aussuchen: sie hat sich diesen Posten selbst ausgesucht. Und: sie ist glücklich dort. Denn während die Sphinx nichts auf menschliche Rangordnung gibt, so fühlt sie sich immer noch ihrer alten Rolle als Schwellenwächterin verbunden. Was könnte also idealer für sie sein, als den ganzen Tag vor einer Tür zu sitzen und darauf zu warten, dass Menschen in höchster Not Einlass begehren? Gut, sie verlangt jetzt vielleicht fünfzig Cent anstatt von Geheimnissen, aber irgendwo muss jeder Abstriche machen. Und das Prinzip ist das selbe.

Nur manchmal – nachts, wenn außer ihr kein Mensch mehr da ist und sie sich unbeobachtet fühlt – holt sie einen schwarzen Filzsstift heraus und beginnt Rätsel an die weißen Kachelwände zu schreiben. Rätsel so komplex, so gefinkelt, dass Ödipus daran verzweifelt wäre, dass selbst Quantenphysiker und Nobelpreisträger ratlos davor stünden. (Immerhin, sie hatte ja seit damals ein paar Jahrtausende Zeit, um nachzudenken, nicht wahr?)

Ein, zwei Stunden lang stört kein Geräusch die nächtliche Stille als das Quietschen und Kratzen des Stiftes, dann tritt sie zurück, um ihr Werk zu betrachten. Schließlich seufzt sie, über ihr Gesicht huscht wie ein Schatten etwas, das Melancholie sein könnte, und sie greift nach dem Putzfetzen.

Fünf Minuten später sind die Wände wieder blütenweiß. 

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Eine Antwort zu Das Lexikon der Absonderlichen Arten – Die Toilettensphinx

  1. Mountfright schreibt:

    Hat dies auf schreckenbergschreibt rebloggt und kommentierte:
    Wer wissen will, wie man selbst ein öffentliches Klo mystisch und poetisch machen kann, der frage bei Sarah nach:

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