About: Geschichten für euch
DER INDIK
Es war der Sturm, wie ihn die Crew der Blutlüsternen Annie noch nie erlebt hatte. Die Gewitterwolken türmten sich vor ihnen auf bis in die Unendlichkeit, wallten, wogten, wälzten sich über die See wie ein lebendes Wesen. Jede neue Welle drohte endgültig, das Schiff zum Kentern zu bringen, und schon in den ersten Minuten gingen drei Mann über Bord. Mit jedem vergehenden Augenblick schwand die Hoffnung der Crew weiter.
Und zu allem Überfluss war auch noch die falsche Person am Steuer. Statt der eindrucksvollen Gestalt in Leder und Samt stand dort nur der hochgradig überforderte erste Maat und schwitze Blut und Wasser, während der Käpten seine Befehle durch die geschlossene Kajütentür brüllte.
„Hart Steuerbord… härter Steuerbord, du Wappelwurst! Noch härter Steuerbord, du wurmzerfressenes Wieselhirn! Wenn ich hier rauskomme, werd ich dich persönlich kielholen, wie noch nie jemand… Aaaargh!“
Die Schimpftirade brach mitten im Wort ab und wurden durch ein langgezogenes Stöhnen unterbrochen, das wiederum in das gotteslästerlichste Fluchen überging, dss jemals auf Land oder See über die Lippen eines menschlichen Wesens gekommen war.
Der erste Maat klammerte sich verzweifelt ans Ruder und bereute zutiefst, dass er nicht auf seine Mutter gehört hatte und Steuerberater geworden war. Der Gedanke wurde von einem weiteren Schmerzenslaut aus der Kajüte unterbrochen, dem eine weitere Welle von Flüchen folgte, Flüche so schwarz und bitter, dass sie Brandspuren an der Kajütendecke hinterließen und selbst die hartgesottensten Meuchelmörder der Crew blass unter den sturmzerzausten Bärten wurden. Dann: ein Schrei.
Aber es war diesmal nicht die Stimme von Aminta Margolinta Ich-murks-euch-alle Sherry, Käpten der Blutlüsternen Annie und gefürchtetste Piratenkönigin ihres Zeitalters. Nein, es war eine komplett neue Stimme, die sich da über das Brausen des Sturmes erhob, unerprobt, trotzig, wütend. Und trotz allem, trotz Sturm und Haien und dem tobenden Himmel über ihnen, brach die gesamte Mannschaft in Jubel aus.
Das, womit niemand an Bord mehr gerechnet hätte, trat ein: sie schafften es lebend durch die Nacht. Es war, als wäre der Schrei das Signal gewesen, auf das der Himmel gewartet hatte. Innerhalb von Minuten ließ der Wind spürbar nach und die Wogen glätteten sich. Selbst die Meerjungfrauen machten noch ein paar letzte unhöfliche Gesten in Richtung der Mannschaft und zogen sich dann in die Tiefe zurück. Schließlich strich die Dämmerung über die Welt erleichtertes Seufzen und die Tür zur Kapitänskajüte öffnete sich.
Aminta Margolinta Ich-murks-euch-alle Sherry trat heraus, bleich und erschöpft, aber mit demselben Glitzern in den Augen wie eh und je – ein Glitzern, von dem Männer von Paris bis Feuerland träumten oder albträumten, je nach Mut und persönlicher Erfahrung. In ihren Armen trug sie ein Neugeborenes, eingewickelt in Samt, Seide und den Unterrock einer Königin. (Die Königin von Holland, um genau zu sein. Die Geschichte, wie die Crew in den Besitz der königlichen Garderobe UND ihres Yorkshireterriers gelangt war, würde hier allerdings den Rahmen sprengen. Belassen wir es also bei: es war abenteuerlich.) Es herrschte absolute Stille an Bord, als Aminta nach vorne zum Bug schritt.
„Das“, rief sie und hielt das Kind hoch: „ist Alischa Salomonius Dorotheus Sherry! Er wird einmal der Gefürchtetste von uns allen sein, der Blutrünstigste, der Furchtloseste. Er wird der Schrecken der sieben Weltmeere und …“
Sie unterbrach sich, als sie merkte, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr ihr galt, sondern ganz dem, was Alischa gerade tat. Später waren sich alle Anwesenden einig: noch nie zuvor und nie danach hatte jemand in einem dermaßen anmutigen Bogen von Bord der Blutlüsternen Annie ins Meer gepinkelt. Seine Mutter lächelte schief und vollendete ihren Satz: „.. und er fängt jetzt schon damit an.“
Der Jubel war ohrenbetäubend.
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Und hier ist Sarahs Geschichte, Teil 1:
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